Andreas Grün
Mario Castelnuovo-Tedesco
1895–1968
Kammermusik
Wenn man Musikgeschichte als stete Folge von Innovationen begreift, hinter
deren neuesten Stand das Komponieren nicht zurückfallen dürfe, so sind
Castelnuovo-Tedescos 1965 (also im selben Jahr wie zum Beispiel auch das
atonale Recitativo, Aria e Duetto von Giselher
Klebe) geschriebene Sonatina, op.205, für Flöte und
Gitarre oder seine Sonatina Canonica, op.196, für Gitarrenduo
(1961) mit ihrer neoklassizistischen, sich höchstens bis zu impressionistischen
Wendungen vorwagenden Ästhetik, zweifellos reichlich anachronistische Stücke.
Andererseits beweist ja gerade die pure Existenz solcher „viel zu spät“
komponierter Werke, dass „Fortschritt“ ein recht fragwürdiger
geschichtsphilosophischer Begriff ist. Wie dem auch sei – der in Florenz
geborene, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur italienischen Avantgarde gerechnete
und während des Faschismus mit Aufführungsverbot belegte, von Toscanini,
Heifetz und Segovia protegierte, für Hollywood zeitweise Filmmusiken schreibende
und schließlich in seiner Wahlheimat Beverley Hills gestorbene
Castelnuovo-Tedesco hat mit diesen beiden Sonatinen jedenfalls Spätwerke
von mediterraner Klarheit und Heiterkeit hinterlassen.
Die kompositorischen Eigenheiten dieser Werke sind freilich keine Errungenschaften
des späten Castelnuovo-Tedesco, sondern schon über einen langen
Zeitraum die Grundlagen seines unverwechselbaren Stiles: die kontrapunktische,
häufig imitatorische Übereinanderschachtelung der Themen; deren Verarbeitung
durch Zergliederung in ihre (meist kurzen) motivischen Bestandteile; immer wieder
thematische Sechzehntel-Tonrepetitionen. All diese Merkmale prägen auch
sein 1950 entstandenes, Segovia gewidmetes Quintette, op.143, für
Gitarre und Streichquartett, oder die Fantasie, op.145, für
Gitarre und Klavier. Dabei übertrifft das früheste all dieser Werke,
das Quintett, in seiner Harmonik (etwa die harte Parallelführung von
Septakkorden im ersten Satz), seiner Ausdruckstiefe (die düstere Chromatik
des zweiten Satzes) und seinen Klangwirkungen (etwa die Flageolett-Quintparallelen
im dritten Satz) alle späteren. Die an die Aufführenden hohe Ansprüche
stellende Komplexität des Werkes einerseits und andererseits seine unmittelbare
Wirkung, hervorgerufen durch eine breite Palette musikalischer Charaktere von zarter
Lyrik bis zu ausgelassener Vitalität, machen das Quintett zum Hauptwerk der
Gitarrenkammermusik Castelnuovo-Tedescos.
Andreas Grün
Quintette op.143
(SoundCloud)
Pressestimmen
Publikumswirksam war der letzte Beitrag: die „Sonatina“ op.205
von Mario Castelnuovo-Tedesco … Als später Vertreter des Neoklassizismus
komponierte er in Anlehnung an die Wiener Klassik und das Barock, doch Einflüsse
aus der italienischen Volksmusik waren ebenso erkennbar. Der hervorragenden Leistung
beider Interpreten war es mit zu verdanken, dass die „Sonatina“ allgemein
sehr großen Anklang fand.
Calwer Kreisnachrichten