Andreas Grün

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Frank Michael

*1943

Tamar (Erotogramm IV) • Nocturnal

Das Jahrhunderte alte, mehr oder weniger starke Tabu, das auf Kunst mit ausgesprochen erotisch-sexuellen Gehalten lag, galt natürlich auch für die Musik, wenn auch immer wieder in Doppelbödigem – vor allem in Opern – Erotik als Qualität des Menschseins durchschlug. Besonders beeindruckende Beispiele erotischer Musik sind Richard Strauss’ Don Juan, Alexander Skrjabins Le poème de l’extase, die Zwischenaktmusik aus Lady Macbeth von Dimitri Schostakowitsch, Béla Bartóks Wunderbarer Mandarin oder in neuerer Zeit Alcides Lanzas Penetration VI und Help, I’m a rock der Underground-Gruppe Mothers of Invention. Die Tochter des Dirigenten Hermann Scherchen, Tona Scherchen-Hsiao komponierte 1972 Yun-Yu (Wolken und Regen als chinesisches Symbol für den Liebesakt) für Violine und Vibraphon. – In meinem Zyklus der Erotogramme für Soloinstrumente ohne und mit Tonband (op.29) werden die verschiedensten Aspekte der Erotik gestaltet. So ist Oktopus von 1970 für Flöte und Tonband „umfassend“, die Darstellung des Todesaspekts der Liebe ist in Mantis religiosa für Saxophon und Tonband geplant.
In Tamar für Gitarre solo überwiegt der Aspekt der Zärtlichkeit. Das Werk setzt zahlreiche neue Gitarrentechniken ein: Klopfen, Glissandi, Gegenglissandi, Zupfen hinter dem Grifffinger etc. Notiert ist es teils in modifizierter herkömmlicher Notation, teils in einer speziell für dieses Werk entwickelten Tabulaturschrift, die graphisch wirkt, jedoch außerordentlich präzise die gewünschten Klänge evoziert.
Im Nocturnal, einer „Hommage à Anaïs Nin“, die natürlich auch als „absolute“ Musik gehört werden kann, spielen ton- und zahlensymbolische Vernetzungen eine große Rolle, z. B. besonders deutlich im Takt 217, in dem die Töne von Anaïs Nin und Henry Miller (bekanntlich inspirierten die Schriftsteller A.N. und H.M. sich gegenseitig, besonders in der Zeit ihrer leidenschaftlichen Liebe Anfang der Dreißiger Jahre) – a-ais + H-e (bzw. H.Mi.) – verflochten erscheinen (piano-Doppelklang der Flöte mit Glissando der Gitarre), wobei 217 in der Zahlensumme sowohl „Hommage à Anaïs N. et Henry M.“ wie auch – verblüffende Ambiguität! – „Henry and Anaïs are fucking“ ergibt. Selbst die Opus-Zahl ist von symbolischer Bedeutung: 68 = Lust = ANHM + Paar (=34+34) und auch die Metronomzahlen (z. B. 42=Anaïs) sind Bedeutungsträger…
Der Titel Nocturnal soll einerseits – im Gegensatz zum divertimentohaften „Notturno“ oder träumerischen „Nocturne“ – mehr auch die abgründigen Dimensionen einer Nachtmusik verdeutlichen, andererseits ist Nocturnal der Titel von Edgar Varèses letztem Werk, dem Textfragmente aus Anaïs Nins House of lncest von 1934 zugrunde liegen. So wird aus diesem Werk auch eine Stelle frei zitiert.

Frank Michael

CD-Veröffentlichung

Feuerschrift – Werke von Frank Michael
Nocturnal  u. a.; Frank Michael (Flöte) und Andreas Grün (Gitarre); Upala-Records

 


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