Andreas Grün

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Alfred Heinrich Loreti

1870–1944

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Segoviana und andere Solowerke

Nur wenig ist bekannt über Alfred Heinrich (oder Alfredo Enrico) Loreti. Die spärlichen Angaben in Josef Zuths 1926 erschienenem Handbuch der Laute und Gitarre sind nahezu alles, was wir über das Leben dieses Musikers wissen. Da er in der Liste der Subskribenten des Handbuchs genannt wird, dürften sie wohl von ihm selbst stammen:

LORETI, A l f r e d  H e i n r i c h, geboren 22. März 1870 in Rom, studierte Musiktheorie an der kgl. „Academia di S. Cecilia“ und wirkt gegenwärtig als Lehrer für Mandolin- und Gitarrspiel in Zürich. Seine Kompositionen erreichen die Op. Zahl 263 […]

Loreti muss bereits in jungen Jahren, spätestens 1889 von Rom nach Zürich übersiedelt sein, denn Ende 1929 veröffentlichte die Zeitschrift Der Gitarrefreund folgenden Bericht:

L o r e t i - A b e n d. Das vom Zürcher Mandolinisten- und Gitarristen-Klub „Orfeo“ anläßlich der 40jährigen Tätigkeit seines Leiters A. H. Loreti im Konservatoriumssaal veranstaltete Konzert gestaltete sich zu einer freudigen und warmen Kundgebung für Loreti als Komponisten und Dirigenten. Das Programm wies nur Kompositionen Loretis auf und zeigte den unermüdlichen Förderer und Schöpfer guter Mandolinen- und Gitarrenmusik. Loreti hat über 250 Werke geschaffen, und die für den Ehrenabend gewählten Vortragsstücke zeigten den Meister auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Die Mitwirkung des Loreti-Quintetts, das in Zürich durch seine äußerst gediegenen Leistungen sehr vorteilhaft bekannt ist, und das Auftreten der noch jugendlichen, sehr sympathischen Gitarren-Solistin Luise Walker aus Wien gaben dem Konzert eine besonders anziehende Note. Fräulein Walker gilt heute als die hervorragendste Vertreterin der neudeutschen Gitarrenkunst. Die Darbietungen der Künstlerin, die ebenfalls Kompositionen von Loreti vortrug, wurden auch bei uns nach Verdienst gewürdigt. Der Anlaß gestaltete sich zu einem wirklichen Ehrenabend für Loreti, dem der rauschende Beifall gezeigt haben dürfte, daß man seine Kunst hier zu schätzen weiß.

1944 verstarb Loreti in Zürich.
Man kann vermuten, dass sein Gesamtschaffen am Ende weit über 300 Werke umfasst haben mag. Von diesen sind heute allerdings nur noch wenige in verschiedenen Bibliotheken auffindbar, kein einziges ist mehr im Handel erhältlich. Offensichtlich wurden die meisten von Loretis Kompositionen auch zu seinen Lebzeiten gar nicht publiziert.
Den Beginn der heute noch nachweisbaren Veröffentlichungen machen die 1917 erschienenen Albumblätter für Mandoline und Gitarre mit den Titeln Süßes Erinnern, Traumgesicht, Die Zigeunerin, Liebesleid und Liebesfreud. Es folgt 1918 seine vierbändige Neue Schule für Gitarre oder Laute, aus der auch die kleine Etüde stammt, die bereits 1914 im Gitarrefreund abgedruckt worden war und dadurch einige Verbreitung gefunden hat. Auch in der Schule finden sich zahlreiche Duos für Mandoline und Gitarre.
1923 kamen die Werke Hoffnung – Heimweh op. 252, Bolero op. 241 und Filigrana op. 167 in einem Heft unter dem Titel Kompositionen heraus. Der stets gestrenge Hans Tempel besprach diesen Sammelband 1926 im Gitarrefreund:

Für einen Tonsetzer, dessen Werkzahlen weit ins dritte Hundert gehen, ist das erste der vier Stücke eine achtbare Leistung. Mit einer in bescheidener Wagner-Nachfolge geschulten Harmonik hat Loreti in dieser „Hoffnung“ ein ausdruckstarkes Stimmungsbild geschaffen. […] Den Spielern wie den „Komponisten“, die immer noch glauben, daß der Gitarremusik nur eine vor 150 Jahren üblich gewesene Harmonik angemessen sei, zeigt Loreti, daß auch eine fortschrittliche harmonische Satzweise (die von der „modernen“ noch weit entfernt ist) durchaus nicht die Grenzen des Leicht-Spielbaren überschreiten muß. Die Hoffnungen, die man auf Grund dieser „Hoffnung“ auf Loreti zu setzen berechtigt wäre, werden durch die beiden im selben Heft enthaltenen Tanzstücke im Keime erstickt. Der Bolero ist konstruierte Musik, und die Mazurka würde jeder Sammlung von Salonstücken Ehre machen.

Eine Rezension, die in ihrem Zuspruch zu Hoffnung und Heimweh einerseits, ihrer Enttäuschung aber über den Bolero und Filigrana andererseits durchaus nachvollziehbar ist.
Loretis Reverie op. 164 ist eines der vielen nicht mehr auffindbaren Stücke, obwohl es anscheinend veröffentlicht worden war. Alles, was wir haben, ist wiederum eine Besprechung im Gitarrefreund, diesmal von Fritz Buek aus dem Jahr 1928:

[…] Von den bereits über 200 Werken dieses Komponisten ist wohl der größte Teil bisher ungedruckt oder im Selbstverlag und nur wenige, wie das Op. 252 bei Hofmeister erschienen. Was bisher an die Öffentlichkeit drang, zeigt durchweg achtbare Leistungen und bewegt sich nicht auf ausgetretenen Bahnen, sondern eine fortschrittliche harmonische Satzweise. Die uns vorliegende neue Komposition, eine Reverie Op. 164 […] bestätigt aufs neue die hier bereits hervorgehobenen Eigenschaften. Eine gut erfundene Melodie ist hier harmonisch interessant verarbeitet […]. Es wäre zu wünschen, daß dem bescheidenen und begabten Künstler und Tonsetzer mehr Gelegenheit geboten würde, auf diesem Gebiete für die Gitarre tätig zu sein.

Das Opus magnum unter Loretis Gitarrenwerke dürfte wohl seine 1925 entstandene viersätzige Suite pour guitare concertante mit dem Titel Segoviana op. 261 sein.
Nachdem der junge Andrés Segovia bereits mehrere Jahre vor allem in Spanien und Lateinamerika erfolgreich konzertiert hatte, war insbesondere sein legendärer Auftritt in Paris am 7.4.1924 der Durchbruch zu einer beispiellosen internationalen Karriere. Ab diesem Jahr lebte Segovia bis 1935 in der Schweiz, zunächst in Lausanne, dann in Genf. Am 19. und 20.11.1924 debütierte er in Zürich, und auch wenn es keine Belege dafür gibt, kann man wohl sicher davon ausgehen, dass Loreti sich diese Gelegenheit nicht entgehen ließ, den spanischen Shootingstar zu hören und kennenzulernen. Seine daraufhin entstandene Segoviana gehört zum in den folgenden Jahren immer umfangreicher werdenden Konvolut der dem berühmten Gitarristen gewidmeten Kompositionen, und es scheint, dass Loreti hier wirklich sein Bestes gegeben hat, um den auratischen Virtuosen zu beeindrucken, sicher in der Hoffnung, dass dieser sein Werk spielen würde.
In der Rubrik Aus unserer Bücherstube – Ankündigungen der Zeitschrift für die Gitarre schreibt im Dezember 1925 vermutlich der Herausgeber Josef Zuth:

[…] Diese Suite stellt ebenso wie die unlängst besprochenen Stücke ganz bedeutende Anforderungen an die Spielfertigkeit, lohnt aber durch reiche, kühne Harmonien, die jedoch immer gut verständlich sind. In Verbindung mit der Bewegung der Stücke, in der südlicher Pulsschlag pocht, bedingen sie die Eigenart des Komponisten, der sicher den besten von heute beizuzählen ist. Wir wollen hoffen, daß auch seinem Ringen nach formeller Vollendung noch der verdiente Erfolg beschieden sein wird.

Anfang 1928 wird die Segoviana auch in der Österreichischen Gitarre Zeitung rezensiert:

[…] Wie schon der Titel andeutet, ist die vorliegende Suite dem spanischen Meister Segovia gewidmet. Sie umfaßt vier Sätze (1. Prélude, 2. Danse, 3. Berceuse, 4. Finale), von denen die beiden langsamen Sätze (Nr. 1 und 3) besonders gut geraten sind. Unsere konzertierenden Künstler werden gern zu diesem Werk, das eine wertvolle Bereicherung unserer Gitarrenliteratur darstellt, greifen, da es ihnen sehr dankbare Aufgaben stellt.

Leider haben sie es trotz dieser Empfehlung offenbar nicht getan. Zwar hat Luise Walker das Stück oder zumindest Sätze daraus vermutlich im oben erwähnten Loreti-Abend und vielleicht auch später nochmal gespielt. Der Widmungsträger selbst hat es aber, wie viele andere der für ihn geschriebenen Werke, nie aufgeführt. In seinem Nachlass ist die Suite nicht zu finden. Ob er sie je erhalten hat, ist also ungewiss, wiewohl man davon ausgehen kann, dass der Komponist ihm ein Widmungsexemplar hat zukommen lassen oder, ebenfalls gut möglich, ihm das Stück sogar persönlich vorgespielt und überreicht hat. Anlässlich der Planung eines Konzertes Anton Stingls in Zürich schrieb der dortige Zitherspieler und Gitarrist Emil Holz nämlich in einem Brief Ende 1934 an den deutschen Kollegen:

[…] Wenn ich recht orientiert bin, so hat die L. Walker vor ca. 2 Jahren etwas aus der Segoviana und das Heimweh gespielt. Es waren dies sentimentale Sachen, wie sie es gerne macht […]. – Loreti ist persönlich ein etwas trockener und wortkarger Italiener, dem natürlich die deutsche tiefernste Musik fremd ist. Als Lehrer und Techniker am Instrument soll er Grösse sein, sogar lt. Ausspruch Segovias. Ich kenne ihn persönlich zu wenig und habe ihn auch nur vor Jahren auf der Gitarre gehört. Er hat mir damals mit seinem saubern Spiel gut gefallen. […]

Da die Segoviana nie ihren Weg in Segovias Repertoire gefunden hat, geriet sie nach Loretis Tod gemeinsam mit ihm in Vergessenheit und ging auch nie in das allgemeine Gitarrenrepertoire ein.

Andreas Grün


Das Sterbejahr Loretis hat Christoph Jäggin im Rahmen seines Forschungsprojekts CH-Gitarre – Was es in Schweizer Sammlungen zu entdecken gibt beim Stadtarchiv Zürich in Erfahrung bringen können. In seinem Repertorium bietet er eine Liste der bekannten Werke Loretis.
Vier der fünf Texte aus den historischen Gitarrenmagazinen sowie der Brief von Holz an Stingl wurden mir dankenswerterweise von Andreas Stevens zugetragen, dessen Forschereifer und herzliche Kollegialität einfach umwerfend sind.


PLAYHoffnung – Heimweh  (YouTube)
PLAYSegoviana  (YouTube)

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.

 


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