Andreas Grün

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on the verge / requiem for holofernes

1991–92, rev. 2003


Die stete Befindlichkeit am Rande …

Die Geschichte des assyrischen Feldherren Holofernes, der im apokryphen Buch Judith von eben dieser enthauptet wird, dürfte allgemein bekannt sein. Das Thema wurde in der Malerei oft variiert, während Musiker es nur selten behandelten. 1990 schrieb der New Yorker Komponist David Lang eine Figurenoper Judith and Holofernes, in der aber schon eine etwas andere Geschichte erzählt wird: „Was bisher immer eine Heldensage gewesen war, in der die tugendhafte Witwe ihre Reize einsetzt, um den feindlichen General zu verführen und zu töten und dadurch ihre Gemeinschaft zu retten, wurde jetzt zu etwas viel Traurigerem. Es wurde zur Geschichte einer Frau, die sich in einem immer wiederkehrenden Alptraum von Einsamkeit und Gewalt verfängt, der in fast komaartiger Abgeschiedenheit beginnt und endet, zur Geschichte einer Frau, die Sexualität dazu benutzt, einen ihr verfallenen Mann zu töten, was ihr wenig einbringt.“ (David Lang)
Langs Judith and Holofernes diente mir als „Parodievorlage“ im (geistigen, nicht technischen) Sinne des Parodieverfahrens der Renaissance, als Anknüpfungspunkt, von wo aus ich eigene, gänzlich andere Wege zu gehen begann. Nur wenige Passagen haben offensichtlichen Zitatcharakter (und selbst diese finden sich nie identisch so bei Lang), aber sein Werk ist dennoch im Hintergrund präsent: unterschiedlichste Elemente aus seiner Figurenoper tauchen auch in meinem Stück auf – manchmal nur eine dynamische Gestalt oder ein bestimmtes Instrument, gelegentlich (selten) eine Tonfolge, ein Rhythmus –, treffen hier aber auf Elemente aus vollkommen fremden Umgebungen, und werden so zu etwas ganz anderem umgeformt.
Ähnlich wie bei Lang und doch im Gegensatz zu ihm ist die formale Konzeption meines Stückes statisch. Lang schreibt: „Wie kann bei einer Geschichte, die schon jeder kennt, ein dramatischer Aufbau gelingen? … Wenn das Publikum vom Bühnengeschehen nicht mehr überrascht werden kann, dann können es die Figuren vielleicht auch nicht. Vielleicht war es das Schicksal dieser Figuren, ihren freien Willen und ihre Fähigkeit, aus eigenem Antrieb zu handeln, vergessen und in Katatonie verfallen zu müssen. … So begann ich, Judith und Holofernes nicht als Individuen auf einer Bühne zu sehen, sondern als für immer in der Zeit gefangene Figuren, die die Bewegungen bis zur Unvergesslichkeit wiederholen. … Wir sehen nur noch die abstumpfende Wiederholung von Ereignissen, deren Ausgang uns bereits bekannt ist.“
Dennoch ist sein Stück dramatisch konzipiert und folgt zumindest äußerlich der Handlung, was ja schon durch die Gattung der Figurenoper nahegelegt wird. on the verge dagegen ist ein „absolutes“ Musikstück, der Bezug zur „Story“ ist lediglich, wenn man so will, ein „poetischer“, ohne dass die Handlung „programmatisch“ nachgezeichnet würde. Die „Dramaturgie“ (sofern man diesen Begriff überhaupt passend findet) meiner Komposition folgt eigenen Gesetzen. Über einem streng mathematisch konzipierten formalen Gerüst (oder geradezu: gegen dieses) entfalten sich praktisch entwicklungslose Gesten, reliefartige Klanggebärden, die Ausdruck eines Zustandes, einer Befindlichkeit sind ( – vielleicht die konsequentere Katatonie?). Ist Langs Statik die des sich seit 2300 Jahren immerwährend wiederholenden Absturzes, so ist es hier diejenige des Balanceaktes des am Rande des Abgrundes Stehenden.
Die Partitur von on the verge ist das Resultat eines vertikalen Wachstumsprozesses, eines wiederholten „Übermalens“. Die ersten Pläne galten gemäß eines Auftrages einem Duo für elektrische Gitarre und Schlagzeug, die nächste Etappe waren Skizzen zu einem Quartett für diese beiden Instrumente zusammen mit Flöte und hohem Sopran und schließlich nahm allmählich das endgültige Ensemble Gestalt an – zunächst allerdings mit der Idee einer variablen Besetzung, die vom ursprünglichen Duo bis zum vollständigen Kollektiv im Rahmen bestimmter Regeln alle Möglichkeiten offen ließ. So entstand die Partitur vom „harten Kern“ des Duos aus zu immer periphereren, unwichtigeren Instrumenten hin wuchernd, was sich in der ungewöhnlichen Partituranordnung mit dem Kontrabass ganz oben widerspiegelte.
Nach den Uraufführungen sowohl der kompletten als auch einer mittelgroß besetzten Variante verwarf ich die Idee der variablen Besetzung allerdings wieder, überarbeitete die Partitur noch einmal im Hinblick auf eine nunmehr „obligate“ vollständige Aufführung, beließ aber die unübliche Anordnung der Instrumente in der Partitur, da sie mir nach wie vor doch mehr über das kammermusikalische Wesen und die reliefartige Struktur des Werkes auszusagen scheint, als es eine normale „orchestrale“ Anordnung täte.


Dauer: 13 Minuten

Uraufführung: 5.6.1992, Karlsruhe, unter der Leitung von Zsolt Nagy


vollständige Partitur  (PDF)

 


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