Werke | Kontakt | Home |
1991–92, rev. 2003
Die stete Befindlichkeit am Rande …
Die Geschichte des assyrischen Feldherren Holofernes, der im apokryphen Buch
Judith von eben dieser enthauptet wird, dürfte allgemein bekannt sein.
Das Thema wurde in der Malerei oft variiert, während Musiker es nur selten
behandelten. 1990 schrieb der New Yorker Komponist David Lang eine Figurenoper
Judith and Holofernes, in der aber schon eine etwas andere Geschichte
erzählt wird: „Was bisher immer eine Heldensage gewesen war, in der
die tugendhafte Witwe ihre Reize einsetzt, um den feindlichen General zu verführen
und zu töten und dadurch ihre Gemeinschaft zu retten, wurde jetzt zu etwas
viel Traurigerem. Es wurde zur Geschichte einer Frau, die sich in einem immer
wiederkehrenden Alptraum von Einsamkeit und Gewalt verfängt, der in fast
komaartiger Abgeschiedenheit beginnt und endet, zur Geschichte einer Frau, die
Sexualität dazu benutzt, einen ihr verfallenen Mann zu töten, was ihr
wenig einbringt.“ (David Lang)
Langs Judith and Holofernes diente mir als „Parodievorlage“
im (geistigen, nicht technischen) Sinne des Parodieverfahrens der Renaissance,
als Anknüpfungspunkt, von wo aus ich eigene, gänzlich andere Wege zu
gehen begann. Nur wenige Passagen haben offensichtlichen Zitatcharakter (und selbst
diese finden sich nie identisch so bei Lang), aber sein Werk ist dennoch im Hintergrund
präsent: unterschiedlichste Elemente aus seiner Figurenoper tauchen auch in
meinem Stück auf – manchmal nur eine dynamische Gestalt oder ein bestimmtes
Instrument, gelegentlich (selten) eine Tonfolge, ein Rhythmus –, treffen hier
aber auf Elemente aus vollkommen fremden Umgebungen, und werden so zu etwas ganz
anderem umgeformt.
Ähnlich wie bei Lang und doch im Gegensatz zu ihm ist die formale Konzeption
meines Stückes statisch. Lang schreibt: „Wie kann bei einer Geschichte,
die schon jeder kennt, ein dramatischer Aufbau gelingen? … Wenn das Publikum
vom Bühnengeschehen nicht mehr überrascht werden kann, dann können
es die Figuren vielleicht auch nicht. Vielleicht war es das Schicksal dieser Figuren,
ihren freien Willen und ihre Fähigkeit, aus eigenem Antrieb zu handeln, vergessen
und in Katatonie verfallen zu müssen. … So begann ich, Judith und Holofernes
nicht als Individuen auf einer Bühne zu sehen, sondern als für immer in
der Zeit gefangene Figuren, die die Bewegungen bis zur Unvergesslichkeit wiederholen.
… Wir sehen nur noch die abstumpfende Wiederholung von Ereignissen, deren
Ausgang uns bereits bekannt ist.“
Dennoch ist sein Stück dramatisch konzipiert und folgt zumindest äußerlich
der Handlung, was ja schon durch die Gattung der Figurenoper nahegelegt wird. on
the verge dagegen ist ein „absolutes“ Musikstück, der Bezug zur
„Story“ ist lediglich, wenn man so will, ein „poetischer“,
ohne dass die Handlung „programmatisch“ nachgezeichnet würde. Die
„Dramaturgie“ (sofern man diesen Begriff überhaupt passend findet)
meiner Komposition folgt eigenen Gesetzen. Über einem streng mathematisch
konzipierten formalen Gerüst (oder geradezu: gegen dieses) entfalten sich
praktisch entwicklungslose Gesten, reliefartige Klanggebärden, die Ausdruck
eines Zustandes, einer Befindlichkeit sind ( – vielleicht die konsequentere
Katatonie?). Ist Langs Statik die des sich seit 2300 Jahren immerwährend
wiederholenden Absturzes, so ist es hier diejenige des Balanceaktes des am Rande
des Abgrundes Stehenden.
Die Partitur von on the verge ist das Resultat eines vertikalen
Wachstumsprozesses, eines wiederholten „Übermalens“. Die ersten
Pläne galten gemäß eines Auftrages einem Duo für elektrische
Gitarre und Schlagzeug, die nächste Etappe waren Skizzen zu einem Quartett
für diese beiden Instrumente zusammen mit Flöte und hohem Sopran und
schließlich nahm allmählich das endgültige Ensemble Gestalt an
– zunächst allerdings mit der Idee einer variablen Besetzung, die vom
ursprünglichen Duo bis zum vollständigen Kollektiv im Rahmen bestimmter
Regeln alle Möglichkeiten offen ließ. So entstand die Partitur vom
„harten Kern“ des Duos aus zu immer periphereren, unwichtigeren
Instrumenten hin wuchernd, was sich in der ungewöhnlichen Partituranordnung
mit dem Kontrabass ganz oben widerspiegelte.
Nach den Uraufführungen sowohl der kompletten als auch einer mittelgroß
besetzten Variante verwarf ich die Idee der variablen Besetzung allerdings wieder,
überarbeitete die Partitur noch einmal im Hinblick auf eine nunmehr
„obligate“ vollständige Aufführung, beließ aber die
unübliche Anordnung der Instrumente in der Partitur, da sie mir nach wie vor
doch mehr über das kammermusikalische Wesen und die reliefartige Struktur
des Werkes auszusagen scheint, als es eine normale „orchestrale“
Anordnung täte.
Dauer: 13 Minuten
Uraufführung: 5.6.1992, Karlsruhe, unter der Leitung von Zsolt Nagy
vollständige Partitur (PDF)
Kontakt | Home |