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1992–93
Vom Schatten eines Hauchs geboren
Wir wandeln in Verlassenheit
Und sind im Ewigen verloren,
Gleich Opfern unwissend, wozu sie geweiht.
Gleich Bettlern ist uns nichts zu eigen,
Uns Toren am verschloßnen Tor.
Wie Blinde lauschen wir ins Schweigen,
In dem sich unser Flüstern verlor.
Wir sind die Wandrer ohne Ziele,
Die Wolken, die der Wind verweht,
Die Blumen, zitternd in Todeskühle,
Die warten, bis man sie niedermäht.
Daß sich die letzte Qual an mir erfülle,
Ich wehr’ euch nicht, ihr feindlich dunklen Mächte.
Ihr seid die Straße hin zur großen Stille,
Darauf wir schreiten in die kühlsten Nächte.
Es macht mich euer Atem lauter brennen,
Geduld! Der Stern verglüht, die Träume gleiten
In jene Reiche, die sich uns nicht nennen,
Und die wir traumlos dürfen nur beschreiten.
Du dunkle Nacht, du dunkles Herz,
Wer spiegelt eure heiligsten Gründe,
Und eurer Bosheit letzte Schlünde?
Die Maske starrt vor unserm Schmerz –
Vor unserm Schmerz, vor unsrer Lust
Der leeren Maske steinern Lachen,
Daran die irdnen Dinge brachen,
Und das uns selber nicht bewußt.
Und steht vor uns ein fremder Feind,
Der höhnt, worum wir sterbend ringen,
Daß trüber unsre Lieder klingen
Und dunkel bleibt, was in uns weint.
Du bist der Wein, der trunken macht,
Nun blut ich hin in süßen Tänzen
Und muß mein Leid mit Blumen kränzen!
So will’s dein tiefster Sinn, o Nacht!
Ich bin die Harfe in deinem Schoß,
Nun ringt um meine letzten Schmerzen
Dein dunkles Lied in meinem Herzen
Und macht mich ewig, wesenlos.
Tiefe Ruh – o tiefe Ruh!
Keine fromme Glocke läutet,
Süße Schmerzensmutter du –
Deinen Frieden todgeweitet.
Schließ mit deinen kühlen, guten
Händen alle Wunden zu –
Daß nach innen sie verbluten –
Süße Schmerzensmutter – du!
O laß mein Schweigen sein dein Lied!
Was soll des Armen Flüstern dir,
Der aus des Lebens Gärten schied?
Laß namenlos dich sein in mir –
Die traumlos in mir aufgebaut,
Wie eine Glocke ohne Ton,
Wie meiner Schmerzen süße Braut
Und meiner Schlafe trunkner Mohn.
Blumen hört ich sterben im Grund
Und der Bronnen trunkne Klage
Und ein Lied aus Glockenmund,
Nacht, und eine geflüsterte Frage;
Und ein Herz – o todeswund,
Jenseits seiner armen Tage.
Das Dunkel löschte mich schweigend aus,
Ich ward ein toter Schatten im Tag –
Da trat ich aus der Freude Haus
In die Nacht hinaus.
Nun wohnt ein Schweigen im Herzen mir,
Das fühlt nicht nach den öden Tag –
Und lächelt wie Dornen auf zu dir,
Nacht – für und für!
O Nacht, du stummes Tor vor meinem Leid,
Verbluten sieh dies dunkle Wundenmal
Und ganz geneigt den Taumelkelch der Qual!
O Nacht, ich bin bereit!
O Nacht, du Garten der Vergessenheit
Um meiner Armut weltverschloss’nen Glanz,
Das Weinlaub welkt, es welkt der Dornenkranz.
O komm, du hohe Zeit!
Es hat mein Dämon einst gelacht,
Da war ich ein Licht in schimmernden Gärten,
Und hatte Spiel und Tanz zu Gefährten
Und der Liebe Wein, der trunken macht.
Es hat mein Dämon einst geweint.
Da war ich ein Licht in schmerzlichen Gärten
Und hatte die Demut zum Gefährten,
Deren Glanz der Armut Haus bescheint.
Doch nun mein Dämon nicht weint noch lacht,
Bin ich ein Schatten verlorener Gärten
Und habe zum todesdunklen Gefährten
Das Schweigen der leeren Mitternacht.
Mein armes Lächeln, das um dich rang,
Mein schluchzendes Lied im Dunkel verklang.
Nun will mein Weg zu Ende gehn.
Laß treten mich in deinen Dom
Wie einst, ein Tor, einfältig, fromm,
Und stumm anbetend vor dir stehn.
Du bist in tiefer Mitternacht
Ein totes Gestade an schweigendem Meer,
Ein totes Gestade: Nimmermehr!
Du bist in tiefer Mitternacht.
Du bist in tiefer Mitternacht
Der Himmel, in dem du als Stern geglüht,
Ein Himmel, aus dem kein Gott mehr blüht.
Du bist in tiefer Mitternacht.
Du bist in tiefer Mitternacht
Ein Unempfangner in süßem Schoß,
Und nie gewesen, wesenlos!
Du bist in tiefer Mitternacht.
Georg Trakl wurde 1887 in Salzburg geboren, 1909 stellte er seine erste Gedichtsammlung zusammen, darin der zwölfteilige „Gesang zur Nacht“. Unfähig, die Schrecken des Krieges zu ertragen, vergiftete er sich 1914 durch eine Überdosis Kokain.
Sehr beeindruckt mich die absolute Freiheit von jedem „Tabu“,
die Ausdruckskraft ist in vielen Teilen äusserst direkt und stark, und es gibt
Hintergründiges in den Textbezügen, das mich fasziniert. Es ist ein mutiges Werk,
das mich in keinem Moment gleichgültig lässt. Dass nun ein „aber“ kommt,
wird Sie nicht erstaunen: Manchmal ist mir die Direktheit zu gewaltsam, und einiges
wirkt auch allzu pathetisch auf mich – nicht zuletzt einige unverstellt tonale
Partien, in denen Sie doch (nach meinem Empfinden) allzu unbedenklich mit einem
historisch sehr belasteten „Material“ (+Geste) umgehen. …
Trotz dieser Bedenken: Man spürt, dass Sie voll von Musik sind, d. h. der Zyklus
zeugt von einer inneren Fülle, die mich Ihre Zukunft als Komponist sehr positiv
einschätzen lässt.
Rudolf Kelterborn, Brief vom 6.2.1995
Dauer: 35–40 Minuten
Uraufführung: 27.10.1994, Karlsruhe (Hans Christoph Begemann, Bariton; Thomas Seyboldt, Klavier)
Das Morbide seiner Epoche hat Trakl vorausgeschaut, und Todessehnsucht
erfüllte ihn in kühn formulierten Nachtbildern. Grüns Vertonungen sind adäquat,
voll düsterer Schönheit, in einem fahlen Glanz. Da wird nicht gelärmt, gestottert
und gegeckert, sondern beklemmend schön gesungen.
Notenbeispiele (I, S.2 • III, S.2 • IV, S.1–2 • X, S.1–2 • XI, S.1 • XII, S.2)
anhören: I • II • III • IV • V • VI • VII • VIII • IX • X • XI • XII
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